Der nachfolgende Bericht stammt aus der Sandinavien-Romanreihe “Solkrogen” und beschreibt eine spontane Reise nach Småland, die nicht so gut geplant war, aber dennoch viel Freude bereitete:
Solkrogen, 21.8.1999
Es ist 20.48 Uhr und schon so dunkel im Haus, dass ich das Licht anmachen muss, um zu sehen, was ich schreibe. Das Wetter ist jetzt kühler und ich trage eine Strickjacke.
Auch duftet es frisch; die ersten Felder sind bereits abgeerntet. Wir essen fleißig Brombeeren. Dieses Jahr haben wir sehr viele davon. Aber die Äpfel, Birnen und Pflaumen sind noch nicht reif und es ist auch fraglich, wie gut die Ernte dieser Früchte werden wird. Heuer scheinen wir nicht so viele davon zu haben.
Der Sommer neigt sich unweigerlich in Richtung Herbst, ja, wenn ich ehrlich bin, dann ist er schon längst vorbei. Aber ein allerletztes Mal ist er doch noch zurückgekommen – für vier herrliche hochsommerliche Tage!
Diese genossen wir auf besondere Art. Die ersten drei davon verbrachten wir mit Mia und Toulouse im Land der Kinderträume: “Astrid Lindgren Värld” in Vimmerby. Der Weg dahin ist weit, obwohl Vimmerby nur auf halben Weg nach Stockholm liegt.
Wir planten einen Tag für den Hinweg, einen Tag vor Ort und einen letzten Tag für die Rückreise. Toulouse war ja so aufgeregt, endlich Pippi Langstrumpf sehen zu können. Das war was! Ganz und gar nach seinem Geschmack. Er hat sowieso alle Pippi-Filme, die es gibt und sieht sie immer wieder und wieder… und findet “die stärkste Pippi der Welt” einfach Klasse!
Mia hingegen freute sich auf das “Västervik Lysningsbadet”, einem 5-Sterne Campingplatz, der laut Internet und Broschüren mit allem erdenklichen Luxus ausgestattet war und der in schönster Gegend lag.
Nach der Überfahrt Helsingør-Helsingborg ging es, wie immer, zum schwedischen Supermarkt, im Herzen von Helsingborg, wo wir unser Brunch zusammenstellten, das wir während der Fahrt zubereiten und verzehren wollten. Wir hatten vergessen, wie heiß der Hochsommer sein kann und nach zwei Stunden wurde die Hitze unerträglich und wir suchten nach einem See, in dem wir baden konnten. Ein kleines Paradies zum Abkühlen war auch schnell gefunden. Wie herrlich ist doch die schwedische Sommerlandschaft! Der See so klar -und doch ist das Wasser, wie überall, leicht bräunlich, was auf den hohen Eisengehalt zurückzuführen ist.
Inmitten des Sees ragten kleine Inseln empor. Das Wasser schien gar nicht so tief zu sein und ich fragte mich, ob man wohl dahin waten konnte. Toulouse war schon am Loseilen, aber wir hatten zu wenig Zeit, schließlich wollten wir noch unsere schöne Hütte in Västervik genießen. Schweren Herzens trockneten wir uns wieder ab und auf ging’s, in Richtung Nord-Osten!
Es war schon Abend, als wir das “Västervik Lysningsbadet” erschöpft und durchschwitzt erreichten. An der Rezeption trafen wir auf einen sich recht „geschäftlich“ verhaltenden jungen Mann. Kein “Willkommen!”, kein freundliches Wort, nur nüchternes Vorgehen prägte seine Art.
“Ach, Sie wollen morgen um elf Uhr abreisen? Da können wir ihnen aber keinen Termin für die Abnahme der Endreinigung geben. Erst gegen halb eins hätten wir einen freien Termin.”
Ich traute meinen Ohren kaum. Die haben hier jemanden, der überprüft, ob die Gäste auch ja artig waren und alles gut genug sauber gemacht haben?! Im Geiste passierten düsterste Schulerlebnisse meine Erinnerung; egal wie ich mich anstrengte, nie war es gut genug, nie bekam ich die Note, die ich mir erhofft und ehrlich verdient hatte! Stattdessen ließ mich der Lehrer spüren, dass es nicht darum ginge, meine Arbeit gut zu machen, sondern ihm den Hintern zu lecken.
Machten die das hier genauso? Nun egal, es war spät, wir konnten froh sein, überhaupt noch eine Unterkunft zu bekommen und Mia hatte sich ja so auf das schöne Schwimmbad gefreut. Also nichts wie unterschreiben und schnell rein in die gute Stube! Morgen hatten wir ja noch den ganzen Tag vor uns und der sollte schön werden!
Doch die Unterkunft war klein und schäbig und entsprach weder ihrer Preisklasse noch der wunderschönen farbigen Broschüre. Was nun? Es war spät, wir hatten noch kein Abendbrot gegessen, alle waren müde und Toulouse quengelte. Solange sie Zeichentrickfilme in der Glotze hatten, wolle er auf jeden Fall bleiben! Aber dies war trotz allem unser Urlaub und man hat dennoch so viel Selbstrespekt und Würde, dass man sich nicht alles antun lässt und obendrein noch stillschweigend dafür bezahlt! Obgleich es fraglich war, ob wir zu so später Stunde noch eine andere Unterkunft bekommen würden, war es immer noch besser, es zu versuchen, als hier frustriert unsere Ehre zu begraben. Und im Übrigen gibt es schließlich immer überall ein paar private Häuser, die Bed&Breakfast anbieten und die uns auch zu später Stunde noch reinlassen würden! Es galt nur, sie zu finden.
Unser Geld bekamen wir von dem bewegungslosen Mann ebenso roboterhaft zurück. Nur eine Unterschrift war nötig. Aber als ich den Platz für Bemerkungen auf dem Formular sah, hielt ich mich nicht zurück!
Wir fuhren durch Västervik, zum Hafen und zum Fremdenverkehrsamt. Natürlich war es schon geschlossen. Klar, so was ist am Vormittag geöffnet, wo die Leute mit Sicherheit ein Quartier für die Nacht suchen!
Der Hunger trieb uns zum lokalen Supermarkt, der noch bis 20 oder gar 21 Uhr geöffnet war. Das ist in Schweden glücklicherweise keine Seltenheit, auch samstags und sonntags nicht! Dort kaufte ich nicht nur etwas Leckeres für unser abendliches Auto-Picknick, sondern Jonathan fand auch einen Touristenführer mit örtlichen Unterkünften. Ein Ort klang besonders schön: vier kleine Hütten, in einem Hafen in einer Bucht, südlich von Västervik. Also nichts wie anrufen und hin!
Die Dame in dem dortigen kleinen Laden war das absolute Gegenteil des jungen Mannes vom Lysningsbadet: freundlich, offen, ja fast schon liebevoll und fürsorglich! Außer dem Schlüssel gab sie uns noch wissenswerte Ratschläge verschiedenster Art und den Wunsch für eine gute Nachtruhe mit auf den Weg. Morgen früh würde sie frische Brötchen haben und auch sonst sei alles für’s Frühstück hier erhältlich. Geschirr und Anderes fänden wir in der Hütte.
Ja, die Hütte! Schön gemütlich war sie, erinnerte an eine etwas größere Sauna mit ihrem rustikalem ländlichen Charme. Das Wort “Sauna” passte nicht nur zum Baustil, sondern stimmte durchaus mit der Innentemperatur überein! Drum öffneten wir Fenster und Tür, um so richtig auszulüften. Doch leider hatten wir vergessen, dass wir uns in Schweden befanden und Dank der Meeresnähe (3 Meter vor unserer winzigen Terrasse war nichts als Wasser) verwandelte sich unsere gemütliche Behausung binnen kürzester Zeit in ein Dracula-Schloss. Nun, die Nacht sollte geschäftig werden! (Aber was klage ich, du hast ja selbst bereits diese Erfahrung gemacht.)
Erst als die Morgendämmerung schon zu vernehmen war, konnte ich erschöpft einschlafen. Jonathan war weiterhin fleißig dabei, Mücken zu ermorden. “Klatsch” hier, “klatsch” da und eins auf meine Nase hinzu! (“Sorry, I thought, I saw something there… you know, I really hate to get stung!”) Mit “früh Aufstehen” war nichts und als ich mich dann endlich kurz vor Mittag zum gemeinsamen Waschraum für Hüttengäste und Segler schleppte, traf ich auf die Familie aus der Hütte neben uns. Ich konnte meine Frage “Sag’ mal habt ihr auch so viele Mücken?!” nicht unterdrücken und bekam die lächelnde Antwort: “Yeah, the first night, but you learn…!” Unglaublich! Das waren Schweden und dennoch hatten sie keinen solchen Mückenangriff erwartet!
Nun ja, sie waren aus Stockholm. Für sie war das hier noch unbekannteres und wilderes Land, als für uns…
Müßig zu sagen, dass natürlich alle leckeren Brötchen schon längst ausverkauft waren und so machten wir uns abermals auf den Weg, diesmal, um nun endlich Pippi zu sehen! Vimmerby, here we come!
Alles war gut ausgeschildert und selbst Parkplätze waren reichlich vorhanden, so dass man nicht erst noch eine Ewigkeit suchen musste und vielleicht schon vom Anmarsch erschöpft war. Wir packten unsere sieben Sachen und zwei Kinder zusammen und betraten erwartungsvoll den Park.
Das war es also: “Astrid Lindgrens Värld”, 1981 eröffnet. Letztes Jahr von 320.000 Leuten besucht. Seit letztem Herbst gibt es hier auch ein Museum über die berühmte 91-jährige Autorin. Dorthin und in den altmodischen Bücherladen musste ich zuerst, während der Rest der Familie sich erst einmal umsah. Ich kaufte zwei Bücher: “Mitt Småland”, mit vielen farbigen Naturphotos und “Astrid aus Vimmerby”. Ein Heft über Astrid Lindgren und ihre Publikationen nahm ich ebenfalls mit.
Es war interessant, was da alles drin stand! Eins konnte man über die ältere Dame jedenfalls nicht sagen: dass sie kein Rückgrat hatte! 1909 im småländischen „Näs“ geboren, war sie die Drittälteste von vier Geschwistern. Ihre sorgenlose und verspielte Kindheit verging all zu schnell. Dem folgten weniger frohe junge Jahre, ein Volontariat bei der “Vimmerby Zeitung” und Stockholmer Jahre als Büromädchen, das gezwungen gewesen war, ihren unehelichen Sohn für einige Zeit nach Dänemark, zu Pflegeeltern, zu geben.
1931 heiratete Astrid ihren Chef und konnte sich somit dem Dasein als “Ganztagsmutter” widmen. Die Haushaltskasse stockte sie gelegentlich als Stenografin oder mit Reinschreiben auf. Ebenfalls veröffentlichte sie Märchen, über einen Zeitraum von etwa 15 Jahren und in verschiedenen Zeitschriften.
“Pippi Långstrump” ist die Erfindung ihrer Tochter Karin. Als diese 1941 mit Lungenentzündung im Bett lag, bettelte sie jeden Abend, wie Kinder es nun mal so tun: “Mama, erzähl mir von Pippi Langstrumpf!” Astrid fragte nicht, was oder wer Pippi war, sondern dachte, dass ein Mädchen mit einem so außergewöhnlichen Namen wohl auch ein sehr außergewöhnliches Mädchen sein musste und somit eine besondere Geschichte verdiene!
So hatten die Geschichten ihren Anfang genommen. Doch es war erst im Winter 1944, dass sie zu Papier gebracht wurden. Die angehende Autorin war durch einen verstauchten Fuß außer Gefecht gesetzt worden und nahm sich somit die Zeit, die Geschichten ins Reine zu schreiben, um sie ihrer Tochter zum Geburtstag zu schenken.
Weißt du, wie Pippi richtig heißt? Also ich meine: mit ganzem Namen?! Du wirst es kaum glauben! “Pippilotta Viktualia Rullgardina Krusmutta Efraemsdotter Långstrump”! Und die Bedeutung dieser Namen ist auch nicht ohne. Z.B. kann man “Viktualie” mit “Proviant/Feinkost/Aufschnitt” übersetzen und “Rullgardinie”, ist eine Stoffgardine, die sich hochziehen lässt…
Doch ich wollte vom Erlebnispark berichten. Wie immer ist alles anders, als man es sich vorstellt! Es gab keine schnell herumrasenden Achterbahnen, computergesteuerte Bumper-Cars oder -Boote, Superrutschen oder schwindelerregende fliegende Teppiche. Das Ganze glich eher einem Rudolf-Steiner-Spielplatz. Alles aus Holz, schön bunt gestrichen, aber einfach in seiner Art. Entweder wollten die hier Geld sparen oder haben alles prinzipiell konsequent natürlich eingericht!
Am Eingang konnte man sich für 20 Skr. (etwas weniger als 5 DM) eine kleine Karre leihen, um Kinder und Gepäck darin umherzuziehen. Wie sich später herausstellte, war dies eine sehr gute Investition gewesen, denn wer will schon all den Kram die ganze Zeit schleppen?! Man wird auf den vielen Waldwegen nämlich recht schnell müde!
Die Prospekte werben damit, dass hier alles geschehen kann und man sich nirgendwo vor Pippi, den Räubern, Emil oder Ronja Räubertochter sicher fühlen kann. Das Straßentheater kann plötzlich überall zur Realität werden und man selbst wird zum Statist. Kein leeres Versprechen… Und hier kam sie auch schon, Pippi auf dem Fahrrad, riss schwedische Witze, streckte frech die Zunge heraus und wirbelte ihre roten Zöpfe durch die Luft. Jung und Alt lachten. Zu verstehen, was sie sagte, war nicht notwendig, ihr Frohsinn steckte alle an und die Kinder jubelten und wollten sie am liebsten gar nicht weiterziehen lassen.
Doch wo war die “Villa Villekulla”, die “Villa Kunterbunt”, wie man sie in Deutschland nennt? Hier? Nee, das konnte doch nicht sein, sie war so winzig und sah überhaupt nicht aus wie im Film! Aber doch, es war wahr: Das war sie! Schade, hier waren so viele liebevoll nachgebaute kleine Häuschen, aber die Villa Villekulla, die ja eigentlich die Hauptattraktion sein sollte, war… nun ja , ein Spielhaus, wie viele andere, gelb gestrichen, mit einem Schildchen (“Villa Villekulla”) drauf, welches sie eben von anderen Spielhäusern unterschied. So ein Käse! Mia und Toulouse waren gleichermaßen enttäuscht!
Die Enttäuschung wurde auch nicht weniger, als wir “Hemgjorda pannekakor med hallonsylt” kauften. Diese Pfannkuchen waren bei Weitem nichts aus heimischer Küche, sondern in der Mikrowelle kurz erhitzte “Standart-Crêpes” mit einem Kleks Marmelade, in der nicht mal die kleinsten Obstreste auszumachen waren! Klebrig waren wir nun zu allem Überfluss auch noch, und das musste erst alles wieder abgewaschen werden.
Als wir den Weg danach weiterverfolgten, kamen wir zu dem Burgwall vom “Tornrösdalen” (dem Dornröschental). Hier waren eine große Bühne, ein Imbiss und viele, viele Sitzplätze im Freien. Im Schatten eines Baumes fanden wir einen Tisch.
Die Aufführung hatte soeben begonnen und war zu unserer Überraschung einfach mitreißend! Auch hier spielte die Sprache keine Rolle. Musik, Choreographie, Kostüme und überhaupt das ganze Arrangement waren so ansprechend und lustig, dass man einfach in gute Stimmung kommen musste!
Genauso gut war das Essen, das ich im Imbiss kaufte. Einfache schwedische Küche, die den Kindern genauso mundete, wie uns Erwachsenen und preiswert war es noch dazu! Gut gestärkt und bestens gelaunt zogen wir erst nach einer guten Stunde weiter.
Wir sahen “den lilla lilla staden”(die kleine kleine Stadt), das Vimmerby der Kindheit Astrid Lindgrens, in kleinkindgerechter Größe und noch so vieles andere. Kleine Krämerläden hatten spannende Dinge, in denen Mia und ich stöbern konnten. Wir besuchten ein typisch schwedisches Café, zogen uns auf einem Floss über einen winzigen See, fanden einen Schatz und begaben uns auf Klettertouren.
Alles in allem war es ein wunderschöner Tag gewesen, als wir gegen Abend das Gelände verließen. Toulouse strahlte über beide Ohren und auch Mia saß lächelnd auf dem Rücksitz und betrachtete verträumt indianische Schmuckstücke, altmodische Oblaten und andere Raritäten, die sie in verschiedensten Läden erstanden hatte. Es war eine zufriedene Familie, die sich zurück in ihre Saunahütte, mit den hunderten von zerquetschten Mückenüberresten an den Wänden, machte!
Die Nächste Nacht war endlich ungestört. Ja, auch wir hatten unsere Lektion gelernt und diesmal alles zugelassen! Da schwitzen wir lieber ein bisschen… – oder auch ein bisschen mehr…
Am darauffolgenden Morgen wachten wir früh genug auf, um noch Brötchen zu bekommen. Wenn das kein Glück ist?! (Die meisten schwedischen Campingplätze und kleinen Krämer pflegen nämlich unheimlich leckere Brötchen zu haben.) Nachdem alles aufgefrühstückt, das Gepäck im Auto verstaut und die Wände geschrubbt waren, machten wir uns wieder auf den Weg…
Quelle:
Der obige Text stammt aus dem Briefroman Nordische Abenteuer (Solkrogen 3), der die Geschichte einer deutsch-französischen Künstlerin erzählt, die versucht, sich in Dänemark mit ihrer Familie auf dem Lande zu verwirklichen, indem sie einem alternativen Lebensstil pflegt und in einem kleinen Fischerhaus in einem dänischen Hafen lebt.
Im Kontrast dazu steht die Brieffreundschaft zu ihrer ehemaligen Schulfreundin, die von Berlin nach Kanada auswandert und etwas bodenständiger ist, da sie als Geschäftsfrau ihre Brötchen verdient.
Bildnachweis und Internetadressen:
alle Fotos und Umschlag: NVP-Verlag
Ausmahme: Das Astrid Lindgren-Foto stammt von dieser Seite:
https://sv.wikipedia.org/wiki/Astrid_Lindgren
Mehr über Astrid Lindgren findet man hier:
https://de.wikipedia.org/wiki/Astrid_Lindgren
Mehr über Astrid Lindgrens Värld steht hier: